Lieber Börsianer, 

nun die Brexit-Verhandlungen ruhen bekanntlich seit einigen Monaten. Politisch betrachtet ist Großbritannien nach der Rücktrittsankündigung der Theresa May praktisch führungslos. Das wird sich heute allerdings ändern. Denn die konservative Tory-Partei wird heute mit großer Wahrscheinlichkeit Boris Johnson zum neuen britischen Premierminister küren 

Der Mann ist, wie Sie wissen, eine recht schillernde Persönlichkeit, quasi das europäische Pendant zu Donald Trump. Zudem gilt er als ausgewiesener Befürworter eines Brexit, der nach seiner Ansicht zur Not auch in unverhandelter Form stattfinden kann. Eine Perspektive, die am Markt logischerweise mit Sorge gesehen wird.  

Vor allem vor dem Hintergrund des anhaltenden Handelskonfliktes zwischen Peking und Washington sowie den zunehmenden Spannungen im Mittleren Osten birgt ein unverhandelter, also harter Brexit durchaus Sprengkraft. Eine weitere Beeinträchtigung des internationalen Handels sollten die Verantwortlichen tunlichst vermeiden. Kein Markt der Welt toleriert auf Dauer einen solchen Risiko-Cocktail.  

Was wird sich mit Boris Johnson ändern? An den Fakten hat sich in London zuletzt nichts geändert. Das britische Parlament hat sich erst vor einigen Tagen erneut gegen einen harten Brexit ausgesprochen. Und hier gilt: Die letzte Entscheidung liegt nicht beim britischen Premier, sondern beim dortigen Parlament.  

Was sind die Szenarien? Neuwahlen wird der neue Premierminister nicht ausrufen. Seine Partei liegt im Umfragetief und hat kein Interesse daran, die schlechten Umfragewerte zu realisieren. Auch die Börsianer sind an Neuwahlen in Großbritannien nicht interessiert. Denn in diesem Fall dürfte die Brexit-Partei des Nigel Farage – ähnlich wie bei den zurückliegenden Europa-Wahlen – punkten. Im britischen Unterhaus könnten dann neue Mehrheiten entstehen, die einem harten Brexit durchaus aufgeschlossen sind.  

Fazit: Dieses Szenario wäre für die europäischen Börsen sehr ungünstig. Allerdings ist diese Variante derzeit sehr unwahrscheinlich.  

Wahrscheinlicher ist, dass Boris Johnson mit Brüssel nochmals nachverhandeln möchte. Dabei wird er versuchen, dass Brexit-Vertragswerk etwas zu entschlacken. Nicht ganz zu Unrecht merkt er an, dass nicht jedes Detail bereits im Vorfeld des Austritts geklärt werden muss.  

Boris wird dabei auf der Seite der EU teilweise auf neue Verhandlungspartner – wie beispielsweise Ursula von der Leyen – treffen. Neue Besen kehren bekanntlich gut. Die neue personelle Konstellation sowohl in London wie auch in Brüssel kann eine Lösung begünstigen. Am Markt favorisiert man genau dieses Szenario. Sollten sich hier in den kommenden Wochen konstruktive Bewegung abzeichnen, wird das den europäischen Börsen definitiv nicht schaden.  

Das Szenario „Neues Referendum“: Sollten Boris und Ursula doch nicht harmonieren, wird ein zweites Brexit-Referendum wahrscheinlich. Dieses Szenario wird am Ende dann endlich eine Lösung bringen. Gleichwohl ist die Anberaumung eines neuen Referendums für den Aktienmarkt erst einmal wenig vorteilhaft. Denn die Brexit-Abstimmung wird kaum noch in diesem Jahr stattfinden. Somit würde der unbefriedigende Schwebezustand erneut um viele Monate verlängert. Das würde die europäische Konjunktur aufgrund der fortbestehenden Planungsunsicherheiten weiter belasten.  

Klar ist auch: Sprechen sich die Briten dann erneut für einen Brexit aus, kann auch das britische Parlament den harten Brexit nicht mehr verhindern. In solcher Ausgang dürfte dann an den Börsen mindestens für mittelschwere Turbulenzen sorgen. 

Marktteilnehmer sehr gelassen – Britische Aktien sogar etwas stärker als deutsche  

Also: Kurzfristig dürfte die Brexit-Thematik bzw. die Amtseinführung des Boris Johnson ohne nennenswerte Auswirkungen auf die Kapitalmärkte bleiben. Der Mann muss sich erst einmal in der Downing Street einrichten, um dann anschließend seine Fühler nach Brüssel auszustrecken.  

An den Märkten beobachte ich derzeit noch keine Besonderheiten, die im Zusammenhang mit der Brexit-Thematik stehen. Tatsächlich schnitten britische Aktien (FTSE 100) in den vergangenen 12 Monaten sogar etwas besser ab als deutsche (Kurs-DAX). Auch das britische Pfund ist gegen den Euro per saldo absolut stabil. Lediglich gegenüber dem US-Dollar neigt die Briten-Währung etwas zur Schwäche.