Lieber Börsianer, 

das ist nur menschlich. Aber ist das auch klug? Die geprellten Wirecard-Anleger wetzen jetzt die Messer und fordern Genugtuung. In den Sozialen Medien wird die Telefonnummer des aktuellen Finanzvorstands von Knoop herumgereicht, damit man sich bei dem Mann entlasten kann. Gleichzeitig rollen die ersten Musterklagen gegen das verantwortliche Personal und gegen das Unternehmen selbst an.  

Die Chancen stehen blendend, dass die Kläger in den anstehenden Verfahren klar obsiegen werden. Jeder wird zu seiner Gerechtigkeit kommen. Die Frage ist dennoch, ist das wirklich so clever? Denn Gerechtigkeit muss nicht zwingend mit Geld einhergehen.  

Zuletzt sickerte durch, dass das Bankenkonsortium die Kreditlinie über rund 1,8 Milliarden Euro für Wirecard bis Ende September verlängert hatte. In den Verhandlungen erweckte der Vorstand offenbar den Eindruck, dass die Fortsetzung des Geschäftsbetriebs zumindest kurzfristig gesichert sei. Man habe nicht nach neuem Geld gefragt, so ein Vertreter aus dem Bankenkonsortium.  

Dennoch beantragte der Wirecard-Vorstand praktisch einen Tag später die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens. Die Gläubigerbanken wurden darüber nicht informiert und fühlen sich nun leicht verschaukelt. 

Hier drängt sich der Eindruck auf, dass der Vorstand überstürzt gehandelt hat. Offenbar will die Mannschaft um den neuen Vorstandsvorsitzenden James Freis aus der Nummer nur noch raus. Man fürchtet die anrollende Klagewelle und milliardenschwere Belastungen durch Schadensersatz. Deshalb sah man keine Perspektive mehr für das eigene Unternehmen.  

Die Aasgeier steigen auf 

In Aschheim richtet sich nun das Team des Münchner Insolvenzverwalters Michael Jaffé häuslich ein. Der Vorstand hat sich selbst kastriert und darf nun zuschauen, wie der Insolvenzverwalter das Unternehmen zerlegen wird. Den Gläubigerbanken kann es fast egal sein. Sie werden im anlaufenden Insolvenzverfahren gemeinsam mit den Anleihe-Gläubigern bevorzugt abgefunden. 

Die Eigentümer bzw. Aktionäre hingegen dürften in die leere Röhre blicken. Dabei liegt der Verdacht nahe, dass die Aktionäre gemeinsam mit ihren Rechtsanwälten eine derartige Drohkulisse aufgebaut haben, die den Vorstand wesentlich zu seinem überhasteten Insolvenzantrag verleitet hat. So leisten nun die wütenden Anleger ihren kleinen Beitrag zur vollständigen Zerstörung der Wirecard.  

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch! Natürlich rate ich den Geprellten nicht, auf jede rechtliche Maßnahme zu verzichten. Klüger wäre es allerdings gewesen, sich zunächst nur mit der Rolle des Wirtschaftsprüfers und des Vorstands zu befassen und dem Unternehmen selbst noch einige Monate zu lassen.  

Nun werden die Kunden in Scharen fliehen. Kein Einzelhändler wird es beruhigend finden, wenn seine Zahlungen über ein insolventes Unternehmen abgewickelt werden. Gleichzeitig steigen die Aasgeier auf. So interessiert sich angeblich Worldline aus Frankreich für das europäische Wirecard-Geschäfts. Freilich haben die letzten Ereignisse dieses Geschäft nicht unbedingt wertvoller gemacht.  

Wichtig ist jetzt, dass der Insolvenzverwalter in Aschheim Ruhe in die Causa Wirecard bringen kann. Die Rechtsvertreter der Aktionäre sollten wiederum überlegen, ob es wirklich sinnvoll ist, die anstehenden Verfahren bis zur bitteren Neige durchzufechten. In solchen aufgeheizten Momenten helfen uns keine Emotionen, sondern nur die kühle Abwägung.