Liebe Börsianerinnen, liebe Börsianer,

das weiß jedes Kind. Die Ölpreise sind in den vergangenen Monaten durch die Decke gegangen. Auf Jahressicht verteuerten sich die gängigen westlichen Ölsorten wie Brent und WTI im Schnitt um rund 75 %. Die Aktien der großen Multis wie etwa Chevron, Shell oder Exxon Mobil sind mitgegangen und haben ihren Aktionären satte Kursgewinne plus einträgliche Dividenden beschert.

Nun stellen sich viele Investoren, an denen diese Sause vorübergegangen ist, die Frage: Kommt da noch mehr? Schließlich wird uns der Ukrainekrieg leider wohl in den nächsten Monaten weiter quälen. Und zuletzt hat der Kreml erste Maßnahmen ergriffen, um die fossilen Rohstoffe als „Waffe“ gegen die pro-ukrainische Allianz des Westens einzusetzen. Beleg dafür ist das Gasembargo gegen Polen und Bulgarien.

Ohne Frage: Kurzfristig sind noch ganz andere, also weit höhere Ölpreise in Europa denkbar, sofern Wladimir Putin in dieser Sache durchzieht.

Langfristig sprechen allerdings einige Fakten gegen eine Verlängerung der Ölhausse. Vor allem gilt: Fossile Rohstoffe sind durchaus in ausreichender Menge vorhanden. Fundamental ist der Ölpreis auf seinem gegenwärtigen Niveau sicherlich nicht gerechtfertigt. Wir zahlen eine geopolitische Risikoprämie auf den Ölpreis.

Außerdem gelingt es dem Westen zunehmend, russisches Öl vom Weltmarkt zu verdrängen. Die USA lockern – sofern noch nicht geschehen – ihre Sanktionen gegen die wichtigen Förderer Iran und Venezuela. Der Maduro in Caracas ist den Amerikanern plötzlich doch nicht mehr so unsympathisch. Und mit den Mullahs kann man mittlerweile offenbar auch halbwegs vernünftig verhandeln.

Auch Deutschland ist in den vergangenen Wochen energiepolitisch durchaus bedeutsam vorangekommen. Ab Sommer nehmen wir keine Kohle aus Russland mehr ab. Bei Öl gelang es den Strategen des Wirtschaftsministers die Abhängigkeit von 35 und 12 % zu senken.

Diese relative Unabhängigkeit beruht nicht darauf, dass wir plötzlich Verbrauch reduziert hätten, sondern darauf, dass wir die Energieträger aus anderen Quellen beziehen. Für den aufmerksamen Börsianer ist das ein klarer Hinweis: Öl und Gas sind in dieser Welt in völlig ausreichender Menge vorhanden. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Preisrückgang für russisches Urals-Öl. Das kostet nämlich derzeit per täglicher Auktion nur rund 73 USD je Barrel. Solche Informationen muss man als Rohstoff-Investor im Hinterkopf haben.

Ich lehne mich aus dem Fenster: Für mich ist deshalb Big Oil nur noch eine Halteposition. Spannend hingegen ist die zweite Reihe oder ganz konkret: die Dienstleister der Branche. Für den Öl- oder Gasmarkt gilt letztlich eine einfache Faustformel: Zunächst füllt sich Big Öl die Taschen, dann baut man die Kapazitäten aus und erteilt den Ölfelddienstleistern dicke Aufträge.

Wer jetzt also von den großen Multis umschaltet auf Explorer, Auftragsbohrer, Plattformverleiher usw. wird für sich die Ölhausse nochmals um viele Monate verlängern. Denn diese Unternehmen hatten jahrelang eher schmale Auftragsbücher und müssen nun die Versäumnisse der Vergangenheit aufarbeiten. Also neue Vorkommen in geopolitisch unverdächtigen Regionen wie der Nordsee, in Nordamerika oder vor der Küste Brasiliens erschließen.