Liebe Börsianerinnen, liebe Börsianer,

die Weltwirtschaft erlebt gerade eine spannende Phase. Erstmals seit Beginn der 1990er-Jahre steigen die Zinsen auf breiter Front an. Damit einher geht die höchste Inflation seit den 1970er-Jahren. Diese explosive Mischung trifft auf zuweilen hoch verschuldete Unternehmen und einige überschuldete Staaten.

Die Corona-Krise hat alte Geschäftsmodelle ad absurdum geführt und neue Geschäftsmodelle gestärkt. Derzeit stehen insbesondere zahlreiche Einzelhändler vor den Trümmern ihrer Existenz. Dagegen profitieren die großen Online-Händler. Wer sich nicht frühzeitig ein zweites Standbein im Internet aufgebaut hat, wird es auch in Zukunft schwer haben.

Auch die Zahl der Reisebüros wird sich in den kommenden Jahren noch einmal drastisch reduzieren, auch wenn Reisen jetzt wieder nahezu ohne Einschränkungen möglich sind. Onlinebuchungen gehört für viele Menschen mittlerweile zum Standard. Selbst für Kinos könnte sich die Krise als Sargnagel entpuppen. Immer mehr Kundengruppen haben während der Corona-Krise die Streaming-Angebote von Netflix, Amazon und Walt Disney entdeckt. 2022 hat ein von Apple für das konzerneigene Streaming-Angebot produzierter Film sogar einen Oscar gewonnen. Fest steht: Unser Leben hat sich radikal verändert.

Diese Transformation ist aber noch lange nicht abgeschlossen. Die Staaten haben viele alte Geschäftsmodelle mit riesigen Krediten am Leben erhalten. Zudem sicherte das niedrige Zinsniveau das Überleben einiger Unternehmen, die eigentlich überhaupt nicht mehr wettbewerbsfähig sind.

Der Schuldenberg ist riesig und die steigenden Zinsen werden zum Problem für die schwachen Unternehmen und Staaten. Die hohen Zinsen kommen verzögert in der Wirtschaft an. Noch steht die Finanzierung, aber neue Projekte werden zunehmend auf Eis gelegt, weil die hohen Zinsen die Projekte teurer machen.

Das eigentliche Problem ist aber die Refinanzierung auslaufender Schulden. Unternehmen und Staaten zahlen ihre Anleihen oder Kredite in der Regel nicht (vollständig) zurück, sondern lösen die Verbindlichkeiten mit neuen Schulden ab. Wenn die Zinsen steigen, kann das ganz schnell richtig teuer werden.

So finanzierte sich BMW in den vergangenen Jahren beispielsweise meist mit Anleihen, für die weniger als 1% Zinsen aufgebracht werden mussten. Wenn diese Anleihen auslaufen, muss das Unternehmen für die Refinanzierung möglicherweise bald wieder tiefer in die Tasche greifen und 3 oder 4% Zinsen zahlen. Wenn die Inflation weiterhin hoch bleibt und die Leitzinsen steigen, sind sogar deutlich höhere Zinssätze drin. Erfahrene Anleger erinnern sich bestimmt noch an Anleihen mit mehr als 10% Zinsen Anfang der 1990er-Jahre.

So hohe Zinsen würden arg in den Gewinn schneiden. Und dabei befindet sich BMW noch in einer guten Position, weil das laufende Geschäft kontinuierlich hohe Gewinne abwirft. Auf diese Weise können die Schulden auch aus dem laufenden Betrieb zurückgeführt werden, um Zinsen zu sparen. Andererseits müssen gerade die großen Automobilhersteller viel Geld investieren, um den Umstieg auf alternative Antriebskonzepte zu schaffen und wettbewerbsfähig zu bleiben.

Auch auf Ebene der Nationalstaaten werden steigende Zinsen zum Problem. In den USA liegt die Staatsverschuldung laut Statista bei 134% des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Schon jetzt beträgt der Zinssatz für die 10-jährige Anleihe knapp 3%. Bei einer Verschuldung von 134% des BIP müssen zu diesem Zinssatz bereits 4% des nationalen Einkommens nur für Zinszahlungen verwendet werden. Wenn die Zinsen steigen, muss ein immer höherer Teil des Staatshaushalts nur für den Schuldendienst aufgewendet werden.

All das mag bedrohlich klingen, trägt aber auch zur Neuausrichtung unserer Wirtschaft bei. Josef Schumpeter bezeichnete den Prozess als schöpferische Zerstörung. Und dabei gibt es immer auch Chancen für Unternehmen, die sich auf die neue Situation am besten einstellen. Ein gutes Zahlungs- und Forderungsmanagement sowie ein Abbau der Verschuldung werden in den nächsten Monaten zu wichtigen Erfolgsfaktoren für die Unternehmen.