Liebe Börsianerinnen, liebe Börsianer,

die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, ist trotz heftiger chinesischer Proteste sicher in Taiwan gelandet.

Die Mitglieder des US-Kongresses haben normalerweise an der Riviera, auf den griechischen Inseln oder an einem anderen Ort, an dem man sich bräunen oder in die Diskothek gehen kann, etwas Offizielles zu erledigen. Pelosi hat sich dazu entschieden ohne triftigen Grund in eines der politisch und militärisch brisantesten Gebiete der Erde zu fliegen.

Die Beteuerungen der USA, Pelosi gehöre zur Legislative und sei nicht für Aufgaben der Exekutive wie Diplomatie und Militär zuständig, bedeuten den Chinesen nichts. Sie glauben nicht, dass es solche Unterscheidungen gibt. Sie sind der Ansicht, dass der Besuch von Pelosi vom Weißen Haus unterstützt werden muss und dass dieser Besuch eine bewusste sowie gefährliche Provokation darstellt.

Die Chinesen sind darüber erzürnt, dass eine so hochrangige US-Beamtin (Pelosi ist nach Kamala Harris die dritte in der Reihe der Präsidentschaftskandidaten) Taiwan besucht, dessen Unabhängigkeit China nicht anerkennt. Einige Stimmen aus dem chinesischen Lager forderten sogar, dass die chinesische Luftwaffe das Flugzeug von Pelosi abdrängt oder sogar abschießt, was natürlich schwerwiegende geopolitische Folgen gehabt hätte.

Was auch immer man von Nancy Pelosi halten mag, sie ist eine ordnungsgemäß gewählte, prominente amerikanische Amtsträgerin. Ein Abschuss ihres Flugzeugs wäre eine Kriegshandlung. Glücklicherweise hat man in Peking einen kühlen Kopf bewahrt. Jedoch verspricht China immer noch irgendeine Art von nicht näher spezifizierter Vergeltung. Pelosis Taiwan-Reise verschärft die Spannungen zwischen den USA und China also weiter.

Natürlich sind politische und militärische Spannungen im westlichen Pazifik und vor der Küste Chinas nichts Neues. Es ist nicht nötig an dieser Stelle die gesamte Geschichte aufzuwärmen, aber sie geht auf das Jahr 1949 zurück, als sich die chinesischen nationalistischen Kräfte unter Chiang Kai-Shek nach Taiwan zurückzogen. Sie errichteten eine Exilregierung, die sich als legitime Regierung Chinas ausgab und Mao Zedongs kommunistische Regierung auf dem chinesischen Festland bekämpfte.

Die USA haben sich über die Jahre hinweg auf einem schmalen diplomatischen Grat bewegt, um einen Konflikt mit China zu vermeiden, der sich zu einem Krieg ausweiten könnte. In den letzten Jahren ging es bei den Auseinandersetzungen um Fischerei- und Mineralienrechte im Südchinesischen Meer und um die chinesischen Bemühungen, durch Ausbaggern von Korallenriffen neue Inseln zu errichten.

Die USA entsenden routinemäßig Marineschiffe durch das Südchinesische Meer in der Nähe von Taiwan zu sogenannten „Freedom of Navigation“-Missionen (nach internationalem Seerecht anerkannt, aber von China abgelehnt).

Bislang ging es bei der Konfrontation zwischen den USA und China darum, dass Marineschiffe dicht aneinander vorbeifahren und Überwachungsflugzeuge von Kampfjets bedrängt werden. Das Risiko einer solchen Taktik ist ein versehentlicher Zusammenstoß, ein irrtümlich abgefeuerter Schuss oder ein missverstandener Befehl. Solch ein Zwischenfall könnte zu Vergeltungsmaßnahmen führen und es ist nicht abzusehen, wo diese enden könnten.

Beide Seiten halten sich in der Regel mit direkten militärischen Aktionen zurück, da sie ganz offensichtlich Gefahr laufen etwas auszulösen, das zum Dritten Weltkrieg führen könnte. China will im Moment keinen Krieg. Aber die Aufmerksamkeit des Volkes von inländischen Problemen auf einen ausländischen Feind zu lenken, ist ein alter Trick, den Regierungen anwenden, um das Volk in Zeiten der Unsicherheit zu einen. Das Volk unter der Flagge zu versammeln, ist eine bewährte Methode, um Unterstützung zu gewinnen.

Wenn Chinas Führung beschließt, dass das Risiko eines Legitimitätsverlusts im eigenen Land größer ist als das Risiko eines Konflikts mit den Vereinigten Staaten, steigt die Wahrscheinlichkeit eines Krieges dramatisch an.

Ich sage es nicht voraus, aber Kriege haben schon wegen weniger angefangen. Wie Mick Jagger sang, ist ein Krieg zwischen den USA und China „nur einen Schuss entfernt“.