Liebe Börsianerinnen, liebe Börsianer,

was den Anlegern vielleicht nicht bewusst ist, ist das Ausmaß, in dem heutzutage Anlageentscheidungen vollständig dem Computer überlassen werden. Ich spreche nicht von automatisierten Handelsgeschäften, bei denen ein Computer Aufträge abgleicht und den Handel ausführt. Diese Art des Handels gibt es schon seit den 1990er Jahren. Ich spreche von Computern, die auf der Grundlage von Algorithmen die Portfolioallokation sowie die Kauf- und Verkaufsentscheidungen eigenständig treffen, ohne dass ein Mensch daran beteiligt ist. Das ist heute die Norm.

80 Prozent des Aktienhandels sind heute automatisiert, entweder in Form von Indexfonds (60 %) oder quantitativen Modellen (20 %). Das bedeutet, dass das aktive Investieren, bei dem man die Allokation und den Zeitpunkt selbst bestimmt, nur noch 20 % des Marktes ausmacht. Aber selbst aktive Anleger erhalten eine automatisierte Ausführung. Insgesamt ist der Anteil des menschlichen Market Making im traditionellen Sinne auf etwa 5 % des gesamten Handelsvolumen gesunken. Dieser Trend ist das Ergebnis von zwei intellektuellen Irrtümern.

Der erste ist die Vorstellung, dass man den Markt nicht schlagen kann. Das treibt die Anleger zu Indexfonds, die sich dem Markt anpassen. Die Wahrheit ist, dass man den Markt mit guten Modellen schlagen kann, aber es ist nicht einfach.

Der zweite Trugschluss lautet, dass die Zukunft über einen langen Zeitraum der Vergangenheit ähneln wird, so dass traditionelle Aufteilungen von beispielsweise 60 % Aktien, 30 % Anleihen und 10 % Bargeld gute Dienste leisten werden. Die Akteure an der Wall Street sagen Ihnen jedoch nicht, dass ein Börsencrash von 50 % oder mehr – wie in den Jahren 1929, 2000 und 2008 – Sie kurz vor Ihrem Renteneintritt in den Ruin treiben könnte.

Es gibt eine noch größere Gefahr, die selten in Betracht gezogen wird. In einem Bullenmarkt verstärkt diese Art des passiven Investierens den Aufwärtstrend, da sich Indexierer in gefragte Aktien stürzen, wie es beispielsweise bei Google und Apple der Fall war. Doch ein kleiner Ausverkauf kann zu einer Massenpanik werden, wenn passive Anleger ohne Rücksicht auf die Fundamentaldaten einer bestimmten Aktie auf einmal den Ausstieg suchen.

Passive Anleger würden nach aktiven Anlegern Ausschau halten, die den Kursrutsch zum Kauf nutzen. Das Problem ist, wenn Anleger nur noch passiv investieren, dann würde es keine aktiven Anleger mehr geben, oder zumindest nicht genug, um den Kursrutsch aufzuhalten. Die Aktienkurse würden geradewegs nach unten fallen. Der Zusammenbruch des Marktes würde in diesem Fall wie ein unkontrollierbarer Zug sein, der nicht mehr zu bremsen ist.

Es geht um Komplexität, und der Markt ist ein Beispiel für ein komplexes System. Eine formale Eigenschaft komplexer Systeme besteht darin, dass die Tragweite des schlimmsten Ereignisses, das eintreten kann, eine Exponentialfunktion der Systemgröße ist. Das bedeutet, dass sich das Systemrisiko bei einer Verdoppelung der Systemgröße nicht gleichermaßen verdoppelt, sondern um den Faktor 10 oder mehr steigen kann.

Diese Art von einem plötzlichen, unerwarteten Zusammenbruch, der aus dem Nichts aufzutauchen scheint, steht völlig im Einklang mit den Vorhersagen der Komplexitätstheorie. Eine zunehmende Marktgröße korreliert mit exponentiell größeren Marktzusammenbrüchen.

Das ist die Welt des automatisierten Investierens. Sie wird in einer Katastrophe enden.